Dolmetscher und Übersetzer Joachim Bruss: Das, wonach ich suche, habe ich In Prag gefunden

Eine Reise von Bonn in die Tschechoslowakei im Sommer 1968 war bestimmend für den Weg dieses gefragten Übersetzers und Dolmetschers in den deutsch-tschechischen Beziehungen. „Das, wonach ich suche, habe ich eigentlich schon längst gefunden. In Prag.“

Václav Havel, Joachim Bruss und Helmut Kohl in dem Jahr 1994 Foto: archiv

Am besten, ich fange mit dem Anfang an. Das ganze Glück oder Unglück – wie man es auch nennen mag –, begann im Grunde damit, dass ich nach dem Abitur nicht wusste, was ich werden will. Am Ende habe ich mich entschlossen, in Bonn Slavistik zu studieren. Im Sommer 1968 organisierte unser Slavistisches Seminar einen Ausflug in die Tschechoslowakei. Es war eine ziemlich aufregende Zeit. Und ich habe in Prag zwei Dinge festgestellt: Prag hat mir sehr gut gefallen, und man konnte sich für ein Stipendium bewerben. Mein erster Aufenthalt war 1969, dann war ich 1970 auf einem einjährigen Austausch. Da war die Atmosphäre in der Tschechoslowakei schon völlig anders: Schweigen im Walde. Die Leute hörten zwar zu Hause Lieder von Karel Kryl, aber sie äußerten ihre Meinung gar nicht mehr. Ich konnte mein Studium in Prag um ein weiteres Jahr verlängern und blieb bis Anfang August 1972. Zu diesem Zeitpunkt sprach ich bereits recht gut. Ich hatte eine ausgezeichnete Lehrerin – sie brachte mir nicht nur Tschechisch bei, sondern weckte in mir auch die Liebe zur tschechischen Sprache.

Damals gab es in Prag keine deutsche Botschaft, sondern nur eine Geschäftsvertretung im Hotel Jalta. Die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern wurden erst 1973 aufgenommen. Die deutsche Botschaft zog ins Palais Lobkowitz, aber es war eher ein Zufall, dass sie gerade dort landete. Früher war dort die chinesische Botschaft, dann eine politische Akademie, und weil dieses Gebäude gerade leer stand, bot die tschechische Seite es Westdeutschland an. Die DDR hatte auch eine Botschaft in Prag – sie befand sich am Moldau-Ufer, wo heute das Goethe-Institut seinen Sitz hat.

Im Jahr 1974 begann ich am Bundesministerium in Bonn, weil sie dort jemanden suchten, der Tschechisch sprach. Ich unterrichtete mehrere Botschafter und begann 1984 als Regierungsdolmetscher zu arbeiten. Zu dieser Zeit übersetzte ich auch schon, insbesondere tschechische Schriftsteller, die in der Tschechoslowakei lebten und im Ausland nicht veröffentlichen konnten. Zum Beispiel Vaculík, Eda Kriseová und natürlich Václav Havel, von dem ich unter anderem die Briefe an Olga übersetzt habe. Die Bekanntschaft mit Jiří Gruša, der mit einem Stipendium in die USA ging und nie nach Tschechien zurückkehrte, hatte einen großen Einfluss auf mein Leben. Im Grunde genommen emigrierte er nicht, aber die Kommunisten haben das gemacht, was sie so gerne taten: Sie haben ihm vorgeworfen, in einem Interview die Situation tschechischer Schriftsteller verzerrt zu haben, ihm die Staatsbürgerschaft entzogen, und so konnte Gruša nicht in seine Heimat zurückkehren. Auch bei Pavel Kohout kam es zu dieser erzwungenen Emigration. Das war einer der Hauptgründe, warum Havel nie ausgereist ist. Weil er ahnte, dass sie ihm dasselbe antun würden.

Joachim Bruss mit Václav Havel auf einem Bild von dem Jahr1986 Foto: archiv

Dann kam die Wende. Ich war gerade in England im Urlaub – ich fahre seit Jahren zu Weihnachten nach Cornwall –, als mir ein großes Geheimnis anvertraut wurde: Václav Havel käme wahrscheinlich Anfang Januar nach Deutschland, und ich solle dort sein. Havel kam tatsächlich am 2. Januar 1990 nach Berlin. Er war am Vormittag in der DDR, schaute durch Löcher in der Mauer und flog dann nach München, wo er Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl traf. Das war meine erste große deutsch-tschechische Pressekonferenz in Westdeutschland, aber vorher musste ich noch einige kleine persönliche Hindernisse überwinden: In England hatte ich keinen Anzug und keine Kreditkarte dabei. Also musste ich mir Geld leihen, um nicht in einem englischen Wollpullover an diesem historischen Treffen in Bonn teilzunehmen.

Gruša war inzwischen nach Europa zurückgekehrt, zuerst in die Schweiz, und ließ sich schließlich in Bonn nieder, wo er nach der Wende tschechoslowakischer Botschafter wurde. Wir standen in Kontakt, vielleicht mehr als nötig, und ich war oft in Tschechien… und Gruša hat schließlich meine Frau geheiratet. Das waren am Anfang seltsame Momente, vor allem als ich für ihn dolmetschen musste. Aber nach zwei Jahren hat sich das wieder eingerenkt und unsere Beziehung kehrte in die alten Bahnen zurück, wenn auch weniger intensiv als zuvor.

1990 trat ich in den diplomatischen Dienst ein, im Februar 1994 wurde ich an die deutsche Botschaft in Prag versetzt, wo ich als Leiter des Sprachendienstes arbeitete, dolmetschte und übersetzte. Ich blieb siebzehn lange Jahre dort, bis ich 2010 in den Ruhestand ging. Für mich war es immer sehr wichtig, dass die Freundschaften aus meiner Studienzeit in Prag funktionierten, und ich führte nie ein rein diplomatisches Leben, weil ich im Gegensatz zu klassischen Diplomaten einen völlig anderen Hintergrund hatte. Trotzdem kam die Frage, was ich als nächstes tun würde. Deutschland hatte keine Anziehungskraft für mich, ich konnte mir nicht vorstellen, nach so langer Zeit in Prag nach Deutschland zurückzukehren; das ist keine Rückkehr. Manchmal dachte ich darüber nach, mich in Cornwall niederzulassen, aber das würde bedeuten, mein gesamtes soziales Umfeld wieder neu aufzubauen, und das ist bei den Engländern keine einfache Sache. Und dann kam mir der Gedanke, dass ich das, wonach ich suche, eigentlich schon längst gefunden habe: In Prag habe ich meine Freunde, ich kenne die Sprache, ich habe meine Ärzte hier, ich fühle mich immer gut in der Stadt, jetzt ist es noch besser ohne diese chinesischen Touristen… Ich begriff, dass ich mein Zuhause eigentlich bereits habe, und ich entschied mich, in Prag zu bleiben. Glücklicherweise ist die Tschechische Republik Teil der Europäischen Union und es gibt hier keine großen Komplikationen. Ich habe angefangen, im Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds zu arbeiten, der brückenbauende Projekte fördert – von klein bis riesig, vom Feuerwehrfest bis zur wissenschaftlichen Konferenz. Ich kenne den Fonds seit seiner Gründung, ich habe ja alle Verhandlungen zu seiner Gründung gedolmetscht. Als deutscher Direktor bin ich dort sieben Jahre geblieben. Es war eine interessante Zeit; der Fonds ist eine gute Organisation, die ihre Daseinsberechtigung hat und sinnvolle Dinge fördern kann.

In den letzten Jahren bin ich Verwaltungsratsmitglied des von František Černý und Lenka Reinerová gegründeten Literaturhauses, welches das Wissen über deutschsprachige Autoren in Böhmen, Mähren und Schlesien bewahrt und vertieft sowie zeitgenössische deutsche Autoren in der Tschechischen Republik vorstellt. Wir veranstalten Vorträge, organisieren Austauschaufenthalte deutscher und tschechischer Autoren, wir fördern literarische Übersetzungen. Aber es ist eine dieser Organisationen, die es nicht einfach haben: Man weiß nie, wie lange sie noch leben werden, weil die Ministerien ihre finanzielle Unterstützung in großem Umfang reduzieren, und auch große Unternehmen sparen – Kultur wird oft an erster Stelle gekürzt.

Wie sehe ich nach all den Erfahrungen die aktuellen deutsch-tschechischen Beziehungen? Ich nehme sie auf zwei Ebenen wahr: Die persönlichen zwischenmenschlichen Beziehungen befinden sich meiner Meinung nach grundsätzlich auf einem sehr guten Niveau. Wenn die Sprachbarriere überwunden wird, indem einer die Sprache des anderen lernt oder beide eine dritte Sprache verwenden, sind die potenziellen Probleme eher menschlicher als deutsch-tschechischer Natur. Komplizierter ist das Niveau der politischen Beziehungen, das nicht nur die Geschichte umfasst, sondern auch die Tatsache, dass es 80 Millionen Deutsche und nur zehn Millionen Tschechen gibt. Positiv zu vermerken ist jedoch sicher, dass beide Länder Mitglieder der EU und der NATO sind und die Deutsch-Tschechische Erklärung abgeschlossen haben, welche die Situation auf beiden Seiten erheblich beruhigt hat. Diese Erklärung muss heute kaum noch erwähnt werden, da die darin enthaltenen Grundsätze in beiden Ländern schon selbstverständlich sind. Und das ist gut so.

Dieser Artikel basiert auf unserem Buch Die Mauer zwischen uns, das die Geschichten von Tschechen in Deutschland und Deutschen in der Tschechischen Republik beschreibt und für die Frankfurter Buchmesse 2021 nominiert war.

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