Allen geht der Sprit aus, nur die deutschen Grünen ähneln einem startenden Flugzeug. Und in seinem Cockpit sitzt – nennen wir sie Hermine

Annalena Baerbock wurde 1980 geboren, als die Grünen gerade ihre Partei gründeten. Jetzt führt sie und verändert die Partei bis zur Unkenntlichkeit. Sie bringt normalerweise das Adrenalin der älteren Herren in Wallung. Zum Beispiel mit dem, was sie in ihrem Wahlprogramm fordert: 500 Milliarden Euro für das Klima, mehr Sozialhilfe für die Armen, höhere Steuern für die Reichen und auch – setzen Sie sich jetzt besser hin – eine Einladung für mehr Einwanderer. Auch die ungelernten. Die bisherigen Wähler der großen Koalition hören das entweder nicht, oder sie wünschen es sich vielleicht auch, denn warum sonst sollte die große Koalition in den Umfragen fallen, während die Grünen in Schlagdistanz zur stärksten Partei sind? Das liegt daran, dass die Korona Deutschland dezimiert hat und die bisherigen Führer sich wie nervöse Spinner verhalten. Ihnen gegenüber steht die energiegeladene und ewig optimistische Annalena. Im September, wenn Wahlen anstehen, ist alles möglich.

Der Vorname Annalena klingt anschmiegsam, fast wie Belladonna und erinnert an gute Zeiten für Deutsche. Von den 1980er Jahren bis zur Finanzkrise war es beliebte Name bei den Kindern, doch nach 2008 ging die Zahl der Annalenen deutlich zurück, berichtet Die Welt. Im Gegensatz zu allen bisherigen Kanzlern hat Baerbock nur gute Zeiten gesehen, aber sie hat schon als kleines Kind in die Politik hineingeschaut. Ihre Hippie-Eltern nahmen sie am Wochenende mit zu Demonstrationen gegen den Pershing oder das Atommülllager in Gorleben. “Es gab Wasserwerfer, aber nach der Demo gingen wir nach Hause und aßen Kuchen,“ erinnert sie sich heute. Schon als Schülerin kannte sie die Namen auswendig, gegen die auf Demos skandiert wurde: Ronald Reagan und Helmut Kohl.

Angela Merkel, die zu dieser Zeit im Sekretariat der Jungen Union (FDJ) an der Akademie der Wissenschaften arbeitete, muss zu Hause heimlich wütend gewesen sein. Heute jedenfalls verstehen sich die beiden Damen prächtig, scherzen oft miteinander im Bundestag und werden von den Medien immer wieder verglichen. Sie kommen zu dem Schluss, dass Annalena so etwas wie “Angela 2.0“ ist, eine verbesserte Version von Merkel. Der gleiche Raketenstart in der Politik und eine ähnliche Anzahl “toter Kollegen”, die den Weg zur Parteispitze säumen. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied. Während Merkel unter ihren Parteifreunden wegen ihres effektiven Ausschaltens von Konkurrenten den Spitznamen “Schwarze Witwe“ erhielt, hinterließ Baerbock mit ihrem siegreichen Wahlkampf bei ihren Kollegen keinen Groll oder Missgunst.

Annalena Baerbock und Angela Merkel.

Oder zumindest hat niemand davon gehört. “Spielt sie gar nicht schmutzig?“ fragte Der Spiegel. Die ganze Gruppe hinter Baerbock steht so zischend da wie ein Spähtrupp vor einem Lagerfeuer. Der Co-Vorsitzende Robert Habeck hat die Ohren gesenkt wie ein Lamm, als Annalena ihm seinen fast erblichen Anspruch auf die Kanzlerschaft genommen hat. Die Einheit scheint eine Art Fetisch zu sein. Jeder, der sich ein wenig mit der Geschichte der Grünen auskennt, muss diese Szene als Science Fiction empfinden.

Fundis versus Realos

Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit. Die Grünen waren die meiste Zeit ihres Bestehens gespalten zwischen Fundis (Fundamentalisten – der Staat muss mit Gewalt bekämpft werden, Deutschland muss pazifistisch gegenüber der Welt sein, die Wähler der Mitte sind den Grünen dagegen egal) und Realos (Realisten – unsere Ziele können nur in der Regierung verfolgt werden, es ist Unsinn, freiwillig die politische Mitte zu räumen, Deutschland sollte an der Seite seiner Verbündeten kämpfen). Baerbock und Co-Vorsitzender Habeck sind Realos so gut wie neu.

Sie werden mit jedem in die Regierung gehen (mit der CDU, der FDP, der SPD und der proto-kommunistischen Die Linke), sie stehen Putin feindlich gegenüber und sind bereit, die Bundeswehr in die ganze Welt zu schicken. Sie sind dabei, die politische Mitte direkt zu überholen. Sie haben dafür alle möglichen rhetorischen Tricks (“Gewaltlosigkeit und Pazifismus sind nicht dasselbe“) und neuerdings – was völlig verrückt ist – haben sie Gefallen am Wort Heimat gefunden. Bislang hatten die Rechten (z.B. die CSU) ein Patent auf diesen semantisch aufgeladenen Begriff, die Grünen haben also Kulturraub begangen.

“Geh zurück zu den Bäumen!“ “Haben Sie jemals einen Job gesehen?“ riefen ihre Kollegen aus anderen Parteien den ersten grünen Abgeordneten 1983 zu. In ihrem Auftreten und Verhalten erweckten die Grünen den Eindruck, dass sie das Bonner Parlament nur als ein weiteres in einer langen Reihe von Gebäuden betrachteten, in denen sie sich für eine Hausbesetzung entschieden haben. Die Vorsitzenden erinnerten die Grünen daran, wenigstens ihre Hemden zuzuknöpfen, wenn sie schon Jeans und Turnschuhe am Rednerpult tragen mussten. “Ich gebe ihnen ein Jahr, höchstens zwei,” sollte der damals neue Bundeskanzler Helmut Kohl erklären. Aber er hat sich geirrt. Als er 1998 nach 16 Jahren zurücktrat, wurde gerade eine neue rot-grüne Regierung gebildet. Er hätte sein Amt nicht erkannt. Im Kanzleramt war plötzlich von erneuerbaren Energien, eingetragenen Partnerschaften und der Verleihung der Staatsbürgerschaft an die Kinder von Gastarbeitern die Rede.

Doch inzwischen gehen sich Fundis und Realos seit fast 20 Jahren kompromisslos an den Kragen. Als der Parteivorsitzende und Außenminister Joschka Fischer die Bundeswehr zum Kampf in den Kosovo schickte, warfen Fundis einen Beutel mit roter Farbe nach ihm und trafen ihn am Ohr. Der Parteitag in Bielefeld im Mai 1999 war eine Zäsur – oder ein Generationswechsel zwischen den Boomern und der Generation X. Diejenigen, die der Partei nach dem Kongress beitraten, entgingen der quälenden Gewissensprüfung, eines ihrer heiligen Prinzipien, nämlich den Pazifismus, geopfert zu haben. Annalena kam 2005 dazu: “Sie wirkte schüchtern und introvertiert,” erinnert sich ein Kollege. “Doch schon bald begann sie zu moderieren, zu organisieren, zu präsidieren.“ Und sie hat nicht aufgehört.

Annalenomania

Ulrich Schulte, Autor von “Die Grüne Macht“, vergleicht Annalena Baerbock mit der ernsten, fleißigen, akribischen, stets vorbereiteten und frenetisch aktiven Figur in Harry Potter – Hermine Granger. Wir können nach einem anderen Gleichnis suchen. Wenn es stimmt, dass das menschliche Gehirn auf zwei Arten gleichzeitig arbeitet – die linke Hemisphäre achtet auf Details und Leistung, während die rechte sich mit dem großen Ganzen und dem Ziel beschäftigt, dann ist Robert Habeck die rechte Hemisphäre und Annalena Baerbock die linke. Auch die Grünen arbeiten seit 2018 zweigleisig, wobei Robert als Philosoph mehr redet und Annalena mehr schauspielert. Ein eifriger Nerd – hätte man damals argumentieren können. Aber er hat nicht widersprochen, denn die Pfadfindergruppe, die sich die Grünen nennt, hat seit Ende des letzten Jahrzehnts ihren Totempfahl, der sie unaufhörlich ermahnt, um Himmels willen keinen Konflikt zu schüren.

Im Jahr 2019 wurde Annalena von den Medien als “Königin der Talkshows“ betitelt. Sie ging bereitwillig in fast alle TV-Talkshows. Sozusagen Talkshows. Helmut Schmidt würde nicht in eine solche Talkshow gehen, berichtet Die Welt. Besonders auf kommerziellen Kanälen wird alles im Ja/Nein-Stil beantwortet, Entschlossenheit siegt über Diskretion, Kommunikationsfähigkeit über Vertiefung. Die linke Hemisphäre dominiert über die rechte. Während der kluge Schriftsteller Habeck auf den Podien mit Metaphern zauberte, ging Baerbock bei allen Parteikollegen herum und verhandelte die Unterstützung des Plenums. Ende April dieses Jahres wählten sie sie zur Überraschung aller, einschließlich Habeck, zu ihrer Kanzlerkandidatin.

Dann brach in der Medienszene etwas aus, das man als Annalenomanie bezeichnen könnte. In der allgemeinen Pandemie des Elends und ihrer quälenden Bewältigung durch die politische Elite sind Sätze wie “Deutschland hat so viel Potenzial. Schließlich haben wir das Automobil und das Fahrrad erfunden“ (aus Annalenas Kandidatenrede). Die ganze Medienszene war verrückt nach dem grünen Kandidaten. “Das Neue gegen das Alte“, ist die gängigste Erzählung. Oder ein anderes Klischee: “Junge energiegeladene Mutter gegen den Alten“.

Das Magazin Stern widmete den Grünen eine ganze Ausgabe mit der Überschrift “Die Alternative“. Da gibt es Sätze wie “endlich anders – Annalena Baerbock will neue Spielregeln für die Politik” oder “plötzlich geht es um Inhalte und nicht Personen!” Das Hauptstück endet mit dem Ausruf: “Eins – Achtung! Zwei – Spannung! Drei – der Absprung. Ins Kanzler*innenamt.” Eine bessere Formulierung hätte sich die PR-Abteilung der Grünen nicht einfallen lassen können. Der deutsche Rundfunk hat wegen seiner Besessenheit von den Grünen den Spitznamen Grünfunk bekommen. Die angesehene Wochenzeitung Die Zeit wiederum stellt Habeck Fragen, die sich mit einem Fragezeichen begnügen und sogar Komplimente enthalten.

Heißen wir Migranten willkommen

Einige Medien halten nüchtern Abstand und fragen, wie Baerbock ihre Hauptziele – den digitalen Staat und den Kampf gegen den Klimawandel – mit einer großzügigen Sozialpolitik und der einladenden Zuwanderungspolitik vereinbaren will. Der Begriff stammt direkt aus dem Wahlmanifest der Grünen. Darin beklagen sie, dass Deutschland ein Einwanderungsgesetz fehlt, das die Zuwanderung fördert. Die Industriegewerkschaften stimmen dem zu und behaupten, dass vor allem die Bau- und Maschinenbaubranche nicht ohne neue Einwanderer auskommt. Sie beziffern ihren Bedarf (zusammen mit den Sozialdiensten) auf 260.000 neue Einwanderer pro Jahr – netto.

Die Grünen haben ein “Rezept“ gefunden und werden dabei merkwürdigerweise von Teilen der FDP unterstützt – das einwanderungsfreundliche Gesetz gegenüber Bürgern der Beitrittsländer (Serbien, Albanien, Kosovo) auf alle ankommenden Zuwanderer auszuweiten. Sie schlagen vor, “Talentkarten“ einzuführen, die ihnen Pluspunkte für Ausbildung und Berufserfahrung aus ihren Herkunftsländern geben würden. Gute Sprachkenntnisse wären keine Voraussetzung mehr. Nur wenn dies zusammen mit einer Erhöhung des Kindergeldes und der Sozialhilfe nicht eher ein Rezept für den Zusammenbruch des Sozialsystems ist, befürchtet Die Welt.

Ob Baerbock Kanzler wird oder als kleiner Koalitionspartner die zweite Geige spielt, ihre Beteiligung an der nächsten Regierung ist so gut wie sicher. Die Euphorie, die daher rührt, dass wenigstens einer jetzt optimistisch über die Zukunft spricht, hat ein koronengeplagtes Deutschland erfasst. Die Grünen erscheinen in den Medien als ein Flugzeug, das abhebt, während die anderen Parteien die Rolle von Maschinen spielen, denen der Treibstoff ausgeht. Armin Laschet (CDU-Vorsitzender) scheint eine Selbsthilfegruppe zu leiten, schrieb zum Beispiel der Spiegel.

Allerdings hat das Land im Kampf gegen die Pandemie riesige Schulden angehäuft, die jemand abtragen muss. Nach Ansicht der Grünen sollten es die IT-Giganten und der wohlhabendere Teil der Steuerzahler sein. Dies ist ein Euphemismus für ein Szenario, in dem die Steuern für fast alle erhöht werden. Außerdem werden die Hunderttausende von Syrern, Irakern und Afghanen, die seit der Migrantenkrise in den Arbeitsmarkt eingegliedert wurden und während der Pandemie Sozialhilfe bezogen haben, bis 2019 möglicherweise keine Beschäftigung mehr finden.

Aber Annalena hat recht: Deutschland hat das Fahrrad und das Automobil erfunden, ergo hat es “enormes Potenzial“. Um es halbwegs populär auszudrücken: Wenn ich gewählt werde, haben wir etwas erfunden.

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